Donnerstag, 6. April 2017

Das erste Jahr

Vor einem Jahr sind wir in Grossenbrode losgefahren. Ein solcher Aufbruch macht natürlich auch Angst. Mein grösster Albtraum aber - in den Jahren zuvor - war eines Tages im Altersheim gegenüber meiner Praxis auf dem Balkon zu sitzen und sagen zu müssen: "warum hast Du es nicht wenigstens versucht?"  In den Häfen der Ostsee schwimmen nämlich viele Schiffe, auf welchen ihre Besitzer von langen Reisen träumen, am Schluss bleiben sie jahrelang im Heimathafen liegen und der Traum materialisiert sich nie. Das erste "Leinen los" war ein Meilenstein in unserem Leben. Unser erstes Jahr als Langfahrer ist jetzt also "in der Erinnerungsbank", das kann uns keiner mehr nehmen - und es war ein gutes Jahr, ein sehr gutes!

Ein ganzes Jahr segeln tönt im ersten Moment nach viel. Unser Nachbar, in der Box links von uns, ist seit neunzehn Jahren unterwegs und hat die Erde zwei mal umrundet, der Nachbar rechts ist auch ein Weltumsegler, er brauchte dazu vierzehn Jahre. So relativiert sich unsere Reise: auch wenn sie für uns eine richtige Herausforderung war, so ist die Fahrt von Norwegen nach Shetland - Orkneys -Schottland - Irland - über die Irish Sea nach Frankreich - über die Biskaya nach Spanien - die Portugiesische Atlantikküste entlang in den Süden - ein Abstecher durch die Strasse von Gibraltar ins Mittelmeer - ein Ausflug nach Marokko - und zurück nach Lagos... ganz ansprechend, aber das ist hier im Hafen von Lagos alles nur halb so wild. Allerdings verleiht uns die Reise nach Shetland schon einen kleinen Abenteurer-Touch, wir sind hier das "Swiss couple who sailed to Shetland".

Dass sich die Reise so ganz anders entwickeln würde als wir uns das vorstellten, ist eine ganz normaler, vernünftiger Prozess. Niemand weiss genau, wie sich das "Unterwegs-sein" nach ein paar Wochen anfühlt. Ich glaube es ist sehr wichtig, auf die sich verändernde Befindlichkeit Rücksicht zu nehmen und den Reisestil entsprechend anzupassen. Wir dachten ursprünglich, dass wir schneller vorwärts kämen, unser wachsendes Bedürfnis das Land nicht nur von See aus zu bewundern, sondern wirklich kennen zu lernen, verlängerte unsere Aufenthalte immer mehr.  Dazu kamen Landausflüge in interessante Kulturstädte und Kulturstätten.

Unser Boot hat sich in all' dieser Zeit bewährt, wir sind sehr zufrieden mit unserem Löttchen. Nicht umsonst sagt man, dass ein Langfahrtschiff viel mehr ein Wohnschiff als ein Segelschiff ist. Unser Boot segelt trotzdem wirklich gut und gibt in schwierigen Situationen auf uns acht. Es stimmt schon, man muss für die Langfahrt kein Regattacrack sein, dass wir auf der Fireball-Jolle soviel (nasses) Lehrgeld bezahlt haben, macht sich jetzt  positiv bemerkbar. Ursprüglich dachte ich, dass nach den Shetlands seglerisch nur noch Dessert käme, man soll den Atlantik aber nicht unterschätzen. Bei hohem Schwell werden viele Häfen an der Westküste Spaniens und Portugals sehr gefährlich und können wegen Grundseen, in welchen schon viel grössere Schiffe als unseres gekentert sind, nicht angelaufen werden. Ausserdem sollen die grossen Kaps mit allergrösstem Respekt angegangen werden, ein Grundsatz an den wir uns ganz genau gehalten haben. In der Strasse von Gibraltar konnte uns Lotta zeigen, dass sie auch mit viel Wind problemlos umgehen kann. Wir sind als Segler gereift, können die Kiste auch zum Laufen bringen, wenn ein anderes Segelboot mit uns "Streit" sucht, grundsätzlich machen wir unsere Törnplanung sehr konservativ und vorsichtig.

Im Freundes- und Bekanntenkreis schlägt uns viel Unterstützung, Wohlwollen und zum Teil auch Bewunderung entgegen. Wir bekommen Besuch von Freunden, Bekannten und der Famile (mit Enkeltöchtern) was uns immer wieder freut. Mit den kleinen, giftigen Bemerkungen aus der Schweiz, welche uns Verantwortungslosigkeit und Pflichtvergessenheit vorwerfen, können wir in der Zwischenzeit ganz gut umgehen.

Die Frage, ob sich unser "Sprung ins kalte Wasser", das Aufgeben unserer guten Jobs mit dem entsprechenden Sozialprestige, der Verkauf von Haus und Geschäft, das Verlassen der Komfortzone und der Aufbruch zu "neuen Ufern" gelohnt hat, lässt sich für uns ganz klar mit "ja" beantworten.

Jeder Mensch hat "Zäune und Gitter" im Kopf. An einer Kunstausstellung sah ich vor ein paar Tagen diese Grafik. Das Durchbrechen dieser Gitter macht frei!


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